Drei Kupferstiche aus den Jahren 1605, 1626 und 1646 von Wilhelm Scheffer, genannt Dilich, Daniel Meissner / Eberhard Kieser sowie von Matthäus Merian zeigen die Stadt Korbach vor den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges und des großen Stadtbrandes von 1664.
Es wird allgemein davon ausgegangen, daß die drei Stiche auf einer gemeinsamen Vorlage beruhen, Meissner/Kieser und Merian mithin lediglich den Stich von Wilhelm Dilich bzw. dessen Vorlage reproduziert hätten. [1] Auf den ersten Blick scheinen die drei Stiche - abgesehen von den Beschriftungen und den künstlerisch veränderten Vordergründen - identisch zu sein. Bei näherer Betrachtung weisen die drei Zeichnungen verschiedene Detailgrade und Perspektiven auf, die sich im Verhältnis der Gebäude zueinander und zum Hintergrund unterscheiden. Auf eine gemeinsame Vorlage deutet insbesondere der jeweils im Mittelgrund etwas links des Tränketores stilisierte Strauch hin, der zwar jeweils leicht unterschiedlich ausgeführt ist, aber denselben Urheber vermuten läßt.
Der Betrachter blickt ungefähr von Südosten auf die Stadt. Da sich die Mauer zwischen Dalwigker Tor und Tränketor direkt dem Betrachter gegenüber befindet, könnte auf den ersten Blick als Standort der Bereich zwischen Wildunger Landstraße, Solinger Straße, Lindenweg/Herrengraben angenommen werden. Diese Ansicht läßt sich heute aufgrund der vorhandenen Bebauung und Bepflanzung in diesem Bereich nicht mehr ohne weiteres reproduzieren, allenfalls vom Dach eines Gebäudes aus oder mittels einer Luftaufnahme. Die Darstellung ist zudem perspektivisch verzerrt, um möglichst viele Details des Stadtbildes aufnehmen zu können. Nach der Ausrichtung der Kirchen zu urteilen, hätte der Zeichner aus südöstlicher Richtung auf die Stadt blicken müssen. Dann aber hätte er das Dalwigker Tor in die Mitte der Darstellung nehmen und durch es hindurch die Dalwigker Straße hinauf zum Kilianshügel sehen müssen. Auch die Ansicht auf die südwestlichen und nordöstlichen Stadtteile sowie auf die Landschaften im Hintergrund lassen sich nicht vollständig mit einer einheitlichen südöstlichen Perspektive in Einklang bringen. Der Künstler hat mithin entweder die Perspektiven verschiedener Standpunkte kombiniert oder einzelne Gebäude perspektivisch zum Betrachter gedreht, um sie wirkungsvoller in Szene setzen zu können. [2] Hierfür spricht unter anderem, daß die Kilianskirche und die Nikolaikirche sowie das Gymnasium (ehemaliges Franziskanerkloster) mit ihren Chören gleich ausgerichtet sind, obgleich dies nicht den wirklichen Verhältnissen entspricht. Die Achse des Chores der Kilianskirche ist etwa nach Ostnordosten ausgerichtet, jene der Nikolaikirche fast exakt nach Osten mit wenigen Grad nach Norden, die Längsachse des Gymnasiums bzw. Klosters weist hingegen in ostsüdöstliche Richtung. Der Künstler hat Vorder- und Hintergrund zudem perspektivisch verdichtet, ein Effekt, wie man ihn fotografisch nur durch die Kombination mehrerer Teleobjektivaufnahmen erzielen könnte. Der Zeichner steht einerseits recht weit von der Stadt entfernt, so daß er sie einschließlich der sie umgebenden Landschaft, insbesondere mitsamt dem Schloß Eisenberg, vollständig erfassen kann.
Andererseits sind sämtliche Gebäude im Verhältnis zur Entfernung zu groß dargestellt. Vielleicht hat der Künstler von mehreren Standorten südöstlich und östlich der Stadt jeweils Teilabschnitte erfaßt und die verschiedenen Zeichnungen anschließend zu einem Gesamtbild miteinander verbunden. [3] Für diese Annahme streitet auch der Detailgrad vieler Gebäude, der aus großer Entfernung nicht mit bloßem Auge zu erfassen ist. Da andererseits brauchbare und erschwingliche Fernrohre zum Zeitpunkt des Entstehens des Stichs noch nicht verfügbar waren, wird man annehmen dürfen, daß der Zeichner zum Teil wesentlich näher an den abgebildeten Gebäuden stand und die Perspektive künstlich geschaffen hat.
Heute kommt man dieser Pespektive am nächsten, wenn man vom südwestlichen Eingang des Hexengartens, von der Fußgängerbrücke über die Bahnschienen am Südbahnhof, Ecke Akazienweg/Waldecker Straße, auf die Stadt blickt. [4]
20 Jahre nach Dillich, 1646, haben Daniel Meisser und Eberhard Kieser in ihrem Werk "Thesaurus Philopoliticus" oder "Politisches Schatzkästlein", dessen Kupferstich reproduziert. Die gewählte künstliche Perspektive und die zahlreichen übereinstimmenden Details (vgl. oben) sprechen eindeutig dafür, daß Meissner/Kieser Dillichs Kupferstich oder dessen Vorlage zum Vorbild genommen haben. Allerdings wurden die Gebäudedetails besser herausgearbeitet und die Stadtansicht noch einmal, wie mit einem Teleobjektiv, verdichtet. Bei genauerer Betrachtung sind zahlreiche Unterschiede in den Details auszumachen.
Zuletzt wurde diese Stadtansicht noch einmal 1646 von Matthäus Merian in seinem Werk "Topographia Hassiae et Regionum Vicinarum" publiziert. Erkennbar beruht auch dieser Stich auf der Grundlage von Dilich. Zum Zeitpunkt der Fertigung dieser Zeichnung hatte Korbach durch den Dreißigjährigen Krieg jedoch bereits schweren Schaden genommen und mehr als ein Drittel seiner Gebäude verloren. Die Stadtansicht Merians kann daher nicht mehr auf eigener Anschauung beruhen.
[1] Vgl. Wolfgang MEDDING (Bearb.), Korbach - Die Geschichte einer deutschen Stadt, Stadt Korbach (Hrsg.), 2. Auflage 1980, S. 183-184; Ursula WOLKERS in: Korbach - Ein Bildband, Wilhelm Bing Verlag/Stadt Korbach (Hrsg.), Korbach 1988, S. 19-20; Wilhelm NIEMEYER (Hrsg.), Nachwort zu Wilhelm Dilich, Hessische Chronica 1605, Faksimiledruck, Bärenreiter Verlag Kassel 1961, S. 12-13.
[2] Zu dem gleichen Ergebnis gelangt für Korbachs Nachbarstadt Mengeringhausen: Armin WEBER (Bearb.), Die Stadt und ihre Bürger um 1700 - Ein historischer Rundgang durch die Altstadt von Mengeringhausen, Stadtgeschichte(n) Mengeringhausen Band 1, Waldeckischer Geschichtsverein e.V. (Hrsg.), Bad Arolsen 2001, S. 27: "Bei der Frage, von welchem Standort die ursprüngliche motivistische Vorlage für die jeweilige Stadtansicht aufgenommen wurde, müssen wir bei Dilich noch eine Besonderheit in die Überlegung einbeziehen: Wie wir aus anderen, etwa gleichzeitig entstandenen hessischen Stadtansichten Dilichs wissen (z.B. Homberg/Ohm, Melsungen oder Butzbach), wechselte der Künstler während der zeichnerischen Aufnahme des Stadtprospektes oder in einem zweiten Stadium, um das Gesamterscheinungsbild zu einer möglichst eindrucksvollen Komposition richtig in Szene zu setzen, durchaus zwei- oder dreimal seinen Standort."
[3] Vgl. WEBER (wie Anm. 2).
[4] In einer früheren Fassung dieses Artikels hieß es: "So sind trotz der vielen und zutreffenden Details Abstriche bei der Realitätstreue zu machen. So ist beispielsweise die Kilianskirche auf dem Stich nur wenig weiter vom Berndorfer Tor als vom Enser Tor entfernt, obgleich sie in Wirklichkeit von ersterem mehr als 400 Meter Luftlinie entfernt steht, von letzterem jedoch weniger als 200 Meter. Diese Entfernungsverhältnisse hätten gerade aus der gewählten Perspektive zum Ausdruck kommen müssen, da sich die Tore vom Standpunkt des Betrachters exakt gegenüber auf der jeweils anderen Seite der Stadt befinden: das Berndorfer Tor im Norden, das Enser Tor im Südsüdwesten." Das ist nicht zutreffend. Von dem besagten Standort auf der Fußgängerbrücke am Südbahnhof stellt sich die Entfernungsverhältnis zwischen Enser Tor, Kilianskirche und Berndorfer Tor so da wie auf dem Stich von Dilich wiedergegeben.